Am Samstag, den 22. Juli 2006, starb Alfred
Bajohr wegen hohem Fieber in einem Stuttgarter Krankenhaus, wenige Tage vor seinem
65. Geburtstag. Alfred litt seit Jahren an der Parkinsonschen Krankheit; er war seit
langem auf Pflege angewiesen und lebte deswegen seit 2003 in verschiedenen
Pflegeheimen.
Der Löwe brüllt also nicht mehr, der „Deutsche Ingenieur Bajohr“
kann keine Ideen mehr in die Welt setzen. Aber sein Spruch „Ein Motorrad kann nicht
einzylindrig und viertaktend genug sein“ wird weiterhin Bestand haben.
Der Diplom-Ingenieur Alfred Bajohr arbeitete von 1970 bis 76 in der
Motorenkonstruktion bei Mercedes-Benz („beim Daimler“) in Stuttgart Untertürkheim.
Durch seine offene Art knüpfte er rasch intensiven Kontakt zu anderen, leistungshungrigen
Jungingenieuren wie Erhard Melcher (das M von AMG), Wolfgang Müller („Vollgasmüller“
und heute einer der weltbesten Vulkanforscher und -fotografen).
Der im Ostdeutschland geborene Alfred Bajohr begann schon als
Maschinenbaustudent Anfang der 60er-Jahre mit dem Motorradrennsport. Schon als Halbstarker
(so nannte man früher die jungen Männer zwischen 14 und 18 Jahren!) hatte er das
schnellste NSU Quickly (50er-Moped mit Pedalen!) Norddeutschlands. Anfang der 60er-Jahre
tunte er NSU Mäxe und brachte sie mit selbst gegossenen Zylindern auf 350 ccm.
Seine 350er Sportmax transportierte er mit einem NSU-Max-Gespann
zur Rennstrecke. Als bei einer nächtlichen Anfahrt nach Schotten das Gespann wegen
Benzinmangel stehen blieb, fuhr er mit der Rennmaschine weiter: „Die bei der Abnahme
warten ja nicht, also musste ich hin“ – Alfred hatte immer einen Grund für Dinge, die
sich andere Leute niemals trauen würden!
Dann kamen Ducati-Einzylinder, für die er leichte Rahmen baute;
auch Osswald Steinbach fuhr 1968/69 eine von Peter Strauß getunte Ducati mit Bajohr-Rahmen
und gewann damit den „OMK Juniorenpokal“. Mit einer auf 500 ccm gebrachten 450er-Honda
Twin im eigenen Rahmen wagte sich Alfred an japanische Technik.
Mitte der 70er-Jahre schmiss er seinen gut dotierten Job beim
Daimler und machte sich in Stuttgart Bad Cannstatt mit einer Motorradwerkstatt selbständig.
Alfred schaffte sich rasch einen Namen mit getunten Ducati- und Guzzi-V2. Die mit
geschmiedeten Mahle-Kolben auf volle 1000 ccm gebrachten und mit kleinen Fräsern
bearbeiteten „Bajohr-Ducatis“ liefen gut 30 km/h schneller und waren dabei auch
durchzugsstärker und langlebiger als die Serien-900er. Primärantriebe und Kupplungen baute
er ebenfalls um; keine Schraube war vor ihm sicher. Deutsche Ingenieursarbeit eben – und
mit einer seiner Maschinen gewann er zusammen mit Nava-Importeur Wolfang Kucera das „8
Stunden-Rennen Nürburgring“.
Mitte der 80er-Jahre bekam er von irgendwo her eine echte Ducati
Pantah Rennmaschine. Klar, dass Alfred erst einmal eine Probefahrt machen musste. Mit Roter
Nummer und je einer Lampen- und Rücklicht-Attrappe volle Kanone über die Autobahn von
Stuttgart ins Allgäu rein. Dann „wegen der Kühlung immer in Fahrt bleiben!", Alfred
also rechts am Stau vorbei, die Polizei sah es, verfolgte ihn, Alfred bog von der Autobahn
ab – und wurde vom Hubschrauber verfolgt, schrappschrappschrapp machte es kilometerlang
dicht über ihm, wie im Film.
Alfred zog in einem kleinen Ort im wahrsten Sinne des Wortes die
Brembo-Notbremse, bog rechtwinkelig von der Straße ab und versteckte sich unter einem weit
vorgezogenen Dach, Motor aus. Doch alles verstecken half nichts, der Hubschrauber landete
neben ihm. Ein Polizist stieg aus und begann schon von weitem mit der Kontrolle, es drohte
eine saftige Strafe. Doch als der Polizist dem „Herrn Bajohr“ gegenüber stand, nahm er
Haltung an und outete sich als begeisterter Motorradfahrer, der die Renn-Pantah zuerst mal
in allen Details ansehen musste. Klar, dass der Polizist mit dem Hubschrauber wieder wegflog
und seinen Kollegen ein „alles in Ordnung!“ zufunkte. Auch klar, dass Alfred mit der
Rennmaschine über Land nach Hause fuhr, ohne einen Funken schlechtem Gewissen übrigens.
Verkehrskontrollen und Radarfallen hatten für Alfred keinerlei
Daseinsberechtigung, er ignorierte sie, als wären sie Luft. Folglich waren Anzeigen gegen
„Herrn Bajohr“ wegen zahlreicher „Verstöße gegen die Straßenverkehrs- und
Zulassungsordnung“ die Regel in Alfreds Briefkasten. Alfred kommentierte die kosten- und
zeitaufwändigen Abwehrversuche mit dem einen Satz: „Freiheit hat eben ihren Preis“ und
überhaupt: „nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“.
Im Verkehr gab es für ihn nur eine Regel: Keine Unfälle verursachen und keinem
anderen Verkehrsteilnehmer Schaden zufügen – und das hat er auch geschafft.
Außer der Rennfahrerei, die den Alfred und eine seiner Ducatis
immerhin bis zur TT auf die Isle of Man (er wurde 15.!) und zum Daytona 200 brachten
(Ausfall wegen eines gebrochenen Kipphebels), war das „gute Geschäfte machen“ eher
nicht sein Ding. Mit seiner Ducati- und Guzzi-Vertretung hinterließ er große Flächen
verbrannter Erde bei Lieferanten und Kunden.
Im Laufschritt tingelte Alfred die folgenden Jahre durch
verschiedene Arbeitgeberlager: Bei einem Formel 3 Team tunte er russische Lada-Motoren, bei
AMG machte er dicke Daimlermotoren flott, bei Opeltuner Irmscher versuchte er sich an
Opel-Triebwerken, bei KST in Bad Dürkheim beobachtete er Motoren im Prüfstands-Dauerlauf
und bei der GTÜ („Gesellschaft für technische Überwachung“) nahm er Fahrzeuge nach §
29 ab - und konnte partout nicht aus seiner Haut heraus, als ihn ein Kunde um ein
„besonderes Gutachten“ bat, weswegen er dann auch dort gehen musste.
In jedem Job eckte Alfred an jeder Ecke an, weil er 1.) immer zu
viel auf einmal wollte, 2.) sich nicht in bestehende Personal-, Ablauf- und
Technik-Strukturen einbringen konnte, 3.) ein rebellisches Anti-Vorgesetzten-Gen in sich
trug und 4.) immer alles besser wusste, - womit er sicher oft genug Recht hatte, denn er war
nicht nur ein durch und durch theoretisch ausgebildeter Motoreningenieur, sondern auch ein
überaus praktisch denkender Mensch. Als Krönung seiner selbständig-kaufmännischen
Laufbahn könnte man seinen Versuch bezeichnen, sich als Finanzberater zu etablieren: „Ich
will andere beraten, dass es ihnen mal nicht so dreckig geht wie mir“.
Man könnte daraus den Funken einer guten Seele herauslesen, die in
Alfred sicherlich vorhanden war, mal mehr, mal weniger. Wenn er immer wieder, nach oft
monatelanger Besuchsabstinenz, völlig aus dem Nichts bei einem seiner Freunde auftauchte
(und Alfred hatte viele Freunde!), vorzugsweise zu einer Zeit, in der das familiäre
Abendessen serviert wurde, bot sich Alfred immer gerne an, so heftig mitzuessen, dass
selbst von den Vorräten für morgen und übermorgen nichts mehr übrig blieb: „Essen muss
gegessen werden, es muss gegessen werden, was auf den Tisch kommt, Essen darf nicht
weggeworfen werden“ – ein typisches Nachkriegskind.
In den letzten Jahren seines Lebens musste Alfred Bajohr starke
Medikamente nehmen, um die Auswirkungen der Parkinsonschen Krankheit (starkes Zittern,
Versteifung der Gelenke) wenigstens etwas in den Griff zu bekommen. Dabei kam es auch zu
einem starken Realitätsverlust; noch 2003 wollte er „Seminare zu Ducati-Tuning“
veranstalten und Bücher schreiben.
In wachen Momenten blühte er regelrecht auf, lebte in Gedanken auf
und mit seinen Sport-Mäxen und träumte davon, seine damalige 500er-Honda-Rennmaschine als
Replica zu fertigen und seinen Bajohr-Fans anzubieten, wovon er bestimmt einige mehr hatte
als ein heutiger Durchschnittspolitiker. Übrigens gab es von den legendären
1000er-Bajohr-Ducatis maximal fünf Stück und nur eine Bajohr-Guzzi wurde fertig gestellt;
der Rest ging im Chaos der Bajohr’schen Motorradwerkstatt halbfertig unter.
Auch die Mitbewohner und das Pflegepersonal der verschiedenen
Pflegeheime, die Alfred Bajohr in den letzten Jahren bewohnen musste, machten ihre
speziellen Erfahrungen mit ihm: Aus dem „Generationenhaus“ büxte er immer wieder
tagelang aus, und als er auf den Rollstuhl angewiesen war, rollte er in diesem vorzugsweise
hinter jedem schwesterlichen Rock her. Und immer wieder griff er sich im Gemeinschaftsraum
die Fernbedienung, um in der Glotze nach Motorsport zu suchen, was seine Bridge- und
MauMau-spielenden Mitbewohner generell gar nicht gut fanden.
Jetzt ist Alfred also ins ewige Fahrerlager abberufen worden.
Bestimmt ist er im Moment
dabei, dem Dottore Ingeniere Fabio Taglioni seine Idee mit den Mahle-Kolben zu erklären,
und beide haben die Skizze auf der Serviette vom letzten Nachtessen schon gezeichnet. Oder
er baut dem Jarno Sarinen eine seiner berühmten Rundrohr-Hinterradschwingen für die TZ,
damit Jarno noch schräger fahren kann, wenn er beim nächsten Daytona 200 den dicken
Viertaktern davon fährt.
Mach’s gut Alfred! Schöne Grüße auch an Siggi Rauch, Ernst
„Klacks“ Leverkus und die anderen. Irgendwann kommt jeder von uns dran, wir sehen uns
und gehen dann mal wieder anständig Essen miteinander!
Franz Josef Schermer
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