Ein bemerkenswertes Buch über Leben und Tod
des schottischen Meisterfahrers J. Guthrie

Titel Titel Rückseite

Paul W. Guthrie: „Jimmie G.“ (2019), 333 Seiten, 48 €, ISBN 978-3-9820872-0-7

Anlass und allgemeine Einordnung des Buches: Wegen des herausragenden Fahrkönnens und seiner tadellosen Persönlichkeit sind in der internationalen Literatur immer wieder Beiträge zum Leben und den sportlichen Leistungen von James („Jimmie“) Guthrie erschienen, jenem Schotten also, der in den Dreißiger Jahren als Werksfahrer von Norton überaus erfolgreich war. Seine Ausnahmestellung begründeten unter anderem die Europa-Meisterschaft in drei aufeinanderfolgenden Jahren (1935 bis 1937), zahlreiche Erfolge auf der Isle of Man in der Junior und Senior sowie zweimal den Sieg beim Großen Preis von Deutschland auf dem Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal.

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Guthrie zusammen mit H.P. Müller; Sachsenring 1936

Hier war er am 8. August 1937 auf dem besten Weg, zum dritten Mal zu gewinnen, als er, in Führung liegend, wenige Kilometer vor dem Ziel tödlich verunglückte – eine unfassbare Tragödie, deren Hergang ungeachtet der intensiven Bemühungen um eine Aufklärung bis heute nicht zweifelsfrei geklärt ist. Mit diesem Unglück befasst sich auch die eingehende Biographie von Paul W. Guthrie, ohne dass auch diese – um es vorweg zu nehmen – letztlich zu absolut unumstößlichen, über jeden Zweifel erhabene Schlussfolgerungen gelangt.

GuthrieContentssoloAber: Auf der Basis eingehender Recherchen des Autors erweitert der Text das Mosaik aus den bislang bekannten Fakten und angestellten Mutmaßungen um viele neue Erkenntnisse. Diese stellen zum einen manche der bereits geäußerten Vermutungen auf eine solidere Basis, und zum anderen sehen sie den Unfall und dessen Behandlung in der Öffentlichkeit als Teil der „geopolitischen Situation“ zur damaligen Zeit. Das Letztere stellt eine theoretische Glanz-Leistung des Verfassers dar, weil damit zahlreiche Einzel-Fakten miteinander in Beziehung gesetzt werden, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen.

Bevor hier auf einige Kern-Aussagen des Buches eingegangen werden soll, ein paar Worte zu dessen Entstehung: Der Autor ist Australier, aus einer ländlichen Umgebung, wie er schreibt, vermutlich mit schottischen Ur-Ur-Vorfahren. Sein Vater, selbst Motorrad-Fahrer, habe ihn seinerzeit von seinem berühmten Namens-Vetter in Schottland erzählt und den Sohn für dieses Metier so sehr begeistert, dass Paul dann eine Lehre als Motorrad-Mechaniker antrat und dieser Beruf ihn 1999 erstmals nach Deutschland und 2001 schließlich nach Hohenstein-Ernstthal führte. Alsbald beherrschte er sicher die deutsche Sprache, was ihm nicht nur Interviews mit einschlägigen Experten erleichterte, sondern mehr noch die akribische Sichtung und Analyse von historischen Dokumenten erlaubte sowie den Zugang zu bislang nicht gesichteten Archiven der früheren Auto-Union.

Zum Unfall-Geschehen bisher Bekanntes. Kurz gefasst gibt es drei Ansichten über den Hergang des Unglücks:

(1) Ein technischer Defekt. Etwa wurden ein Pleuel-Abriss oder der Bruch der Hinterrad-Achse oder Hinterrad-Aufhängung als mögliche Ursachen erwogen. Abgesehen davon, dass Norton dieses nach eingehenden Untersuchungen immerhin als Möglichkeiten einräumte, konnte weder für das eine noch das andere ermittelt werden, ob dieses nicht Ursachen, sondern Folgen des Crashs gewesen waren.

(2) Es hätte sich um einen Fahrfehler von Guthrie handeln können. Aber auch das kann nicht ernsthaft in Betracht kommen: Zum einen wegen der überragenden Kompetenz von Guthrie und zum anderen weil er zum Zeitpunkt des Unfalls es nicht mehr richtig „eilig“ haben konnte angesichts des Umstandes, dass er fast zwei Minuten Vorsprung vor dem bis dahin Zweitplatzierten Karl Gall auf BMW herausgefahren hatte und nur noch ca. 2 km bis zum Ziel zurückzulegen waren.

(3) Eine Kollision mit einem anderen Fahrer habe zu dem Unfall geführt. In der Tat lagen zwei deutsche Fahrer, zwar kurz vor ihrer Überrundung durch Guthrie knapp vor diesem. Einer davon konnte die schnelle Rechts nach dem „Heiteren Blick“ im Unterschied zu dem nachfolgenden Guthrie nicht „voll“ nehmen, was Guthrie zu einem Ausweich-Manöver und von der Strecke zwang. Eine etwas andere Variante dieses Szenarios lautet, dass der „andere“ Fahrer sich gegen die Überholung durch Guthrie durch ein entsprechendes Fahrmanöver zu wehren versuchte. Die letztere These wurde von einem Augenzeugen vertreten, nämlich von Stanley Woods, einem engen Freund von Jimmie, der zum Zeitpunkt des Unfalls ganz in der Nähe seine defekte Guzzi auf der Strecke in Richtung Start-und-Ziel geschoben hatte, als Erster bei dem Verunglückten war und diesen im Rettungswagen in die Klinik nach Chemnitz begleitete (wo Guthrie, der ungeachtet seiner schweren Verletzungen bis kurz vor der Ankunft im Krankenhaus noch bei Bewusstsein war, kurz darauf aber verstarb). Zu Beginn der Neunziger Jahre, also fast ein halbes Jahrhundert später, legte Woods in einem Interview insofern nach, als er behauptete, bei dem anderen Fahrer habe es sich um Kurt Mansfeld auf DKW gehandelt und dieser habe ein „Foul“ begangen.

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Guthrie vor Mansfeld in der Queckenberg-Kurve; ob es sich allerdings um die vorletzte Runde handelt, ist nicht gesichert; weiter vorn sind zwei weitere deutsche Fahrer zu erkennen

Hintergründiges dazu aus dem Buch: Woods ist bald nach seinen Einlassungen verstorben, ohne dass bis dahin seinen Äußerungen detaillierter nachgegangen worden wäre. Krackowizer (zit. nach Woolett, M.: „Norton“, London: Osprey,1992, S. 178) will Mansfeld darauf angesprochen haben, doch könne er sich nicht vorstellen, dass dieser etwas damit tun gehabt habe. (Nach menschlichem Ermessen ein erwartbares Ergebnis…)

Demgegenüber hat Paul Guthrie folgendes recherchiert: Mansfeld soll wie besessen gewesen sein, den nicht nur in Deutschland sehr beliebten Briten im Rennen zu besiegen und habe sich im Vorfeld bei BMW darum bemüht, für den Lauf auf dem Sachsenring eine der Kompressor-Maschinen zu erhalten (für einen Werksfahrer von DKW eine zumindest „schräge Sache“; aber diese Information beruht auf einer Bemerkung von niemand Geringerem als Adolf Meurer als dem Leiter der DKW-Rennabteilung); nach anfänglicher Zusage sei ihm das aber verwehrt worden. Im Rennen habe Mansfeld seinen Tankstop zum heftigen Unwillen seiner Crew über Gebühr in die Länge gezogen, um damit Guthrie, der ihn bereits überrundet hatte, in seine Nähe kommen zu lassen und es ihm und den Zuschauern zu zeigen, dass er ihm im Zweikampf zumindest ebenbürtig sei.

Darüber hinaus hat Paul Guthrie in den Archiven der seinerzeitigen Auto-Union erstmals Dokumente einsehen können, denen zufolge Mansfeld ein paar Wochen später seine Fahrerlizenz für ein halbes Jahr entzogen worden war, und zwar deshalb, weil er als Sieger des Marienburger Dreiecks-Rennens im Oktober nicht zur Siegerehrung erschienen war. Des Weiteren beklagten mehrere Fahrer, dass sich Mansfeld bei verschiedenen Gelegenheiten immer wieder rücksichtslos und regelwidrig verhalten habe; Siegfried Wünsche (also ein Team-Kamerad) und Hein Thorn-Prikker sowie Andere bekundeten schriftlich ihre Bereitschaft, die unfairen Manöver von Mansfeld vor Gericht zu bezeugen. Als Folge dieser Gegebenheiten und eigener Beobachtungen kündigte die Auto-Union den Vertrag mit Mansfeld, der entgegen seinen Bemühungen später auch nicht mehr ins DKW-Team zurückkehren durfte.

Sind das schlagende Beweise für eine Mitschuld von Mansfeld bei dem Unfall auf den Sachsenring? Nein, natürlich nicht, aber sie stehen als Merkmale für einen Teil seiner Persönlichkeit, die rücksichtsloses Verhalten in entsprechenden Situationen wahrscheinlich werden lässt.

Zu einigen Folgen des Unfalls, dem Buch gemäß: Da es sich um einen Unfall mit tödlichem Ausgang handelte, verlangte darüber die FICM (als Vorläufer der heutigen FIM) von der ONS (Oberste Nationale Sportbehörde) einen schriftlichen Bericht. Dieser ist nie erstattet worden, d.h. die deutschen Behörden, letztlich also das dafür verantwortliche NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps) verweigerte jede Stellungnahme. Im Rahmen der Herbstsitzung der FICM erstattete dann lediglich der Engländer (!) Woodhouse einen mündlichen Bericht, mithin eine Person mit fragwürdiger Stellung und unbestimmtem Auftragshintergrund - und von diesem Bericht existieren keinerlei Protokoll-Notizen.

Mehr noch: Insgesamt haben sich offenkundig alle politischen Ebenen - und in deren Einflussbereich auch maßgebliche Einzel-Personen - darum bemüht, den Unfall von Guthrie, das Problem der Verursachung und deren Folgen ebenso zügig wie „geräuschlos“ zu behandeln, die Angelegenheit insgesamt möglichst im Ungefähren zu belassen. Dafür steht, dass die o.a. Rolle von Mansfeld und die daran ansetzenden scharfen Kontroversen zwischen den Beteiligten kaum in die Medien gelangten. Zuvor war der Sarg von Jimmie „mit allen Ehren“ in einem Sonderzug an die Grenze nach Holland transportiert worden. Die politische Lage zwischen dem Deutschen Reich und seinen Nachbarn war extrem gespannt; gerade zum Zeitpunkt des Unfalls hatte die Regierung in London drei deutsche Journalisten des Landes verwiesen; in der Rennfahrer-Szene hofften alle Beteiligten, zu einer gewissen Beruhigung oder gar Deeskalation durch Sport und fairen Umgang miteinander beitragen zu können. Diesen Prozess der aktiven Vermeidung einer Suche nach den konkreten Ursachen hätte es stören müssen, wenn die Ungeheuerlichkeit in den Raum gestellt worden wäre, dass bei einem internationalen Großereignis auf deutschem Boden ein deutscher Fahrer einen prominenten Briten mutwillig in einen schweren Unfall verwickelt hätte. Diese Gemengelage begründet, was Paul Guthrie in Bezug auf den Unfall als „einen Teil der geopolitischen Situation“ meint.

In diesen Erklärungsraum ordnet der Autor auch den möglichen Grund dafür ein, dass Stanley Woods seine Schuldzuweisungen an Mansfeld erst mit einer jahrzehntelangen Verspätung öffentlich gemacht habe. Möglicherweise habe er nicht gegen die eisernen Regeln des „British Official Secrets Act“ verstoßen wollen, die allgemein den Strafrahmen für alle Verhaltensweisen vorgeben, die die Sicherheit des Staates gefährden und die darüber hinaus speziell ein lebenslanges Schweigegebot für alle Mitarbeiter des Geheimdienstes gebieten. In Bezug auf Fahrer, die international unterwegs waren, konnte in zahlreichen Fällen davon ausgegangen werden, dass diese zumindest interessante „Gesprächspartner“ für den Secret Service waren, wenn sie nicht gar direkt für ihn arbeiteten. Nicht von ungefähr standen Namen wie Fergus Anderson und Ted Mellors auf der sog. „Schwarzen Liste“ der Gestapo als solche Personen, die nach der geplanten Besetzung Großbritanniens durch die Wehrmacht sofort festgenommen werden sollten.

GuthriePortraitfotoResümee: Ein großartiges Buch, das umfassend das Leben, die sportlichen Erfolge sowie den Tod von Jimmie Guthrie behandelt (s. o: das Inhaltsverzeichnis); im Weiteren bettet es insbesondere das tragische Ende sowie dessen Folgen ein in die politische Landschaft Europas während der Dreißiger Jahre. Der Autor hat in bewundernswerter Weise recherchiert und jeweils die Herkunft seiner Erkenntnisse penibel belegt – wie es sich für korrektes Arbeiten gehört. Darunter leidet die Lesbarkeit nicht im Geringsten - ganz im Gegenteil handelt es sich um einen durch und durch fesselnden Text.

Schlussbemerkungen: Als Teil seiner Analysen werden wir schmerzlich daran erinnert, dass all die deutschen Rennfahrer-Heroen der Dreißiger Jahre der NSDAP angehörten, Bernd Rosemeyer gar den Rang eines SS-Hauptsturmführers innehatte – „so waren halt die Zeiten“, werden manche denken.

Ein Allerletztes: Es erschließt sich selbst dem aufmerksamen Leser nicht, warum der Ausnahme-Fahrer Guthrie „Jimmie“ genannt wird, anfangs meist in Anführungszeichen, später durchgehend ohne dieselben. Sein Geburtszeugnis vom 29. Mai 1897 weist ihn als „James Guthrie“ aus. Nicht selten finden sich die Initialen A.J. (wobei das A vielleicht auf einem Irrtum beruht und damit sein Bruder Archie gemeint sein konnte, mit dem zusammen er ein gemeinsames Unternehmen führte), besonders häufig nur J (was für James, Jimmy, Jimmi oder Jimmie stehen sollte). Bei Wikipedia ist sogar die Rede von Andrew James „Jimmy“ Guthrie ungeachtet dessen, dass stets ein- und dieselbe Person gemeint ist.

 

GuthrieNSUTeam amMemorialEine selten gesehene Aufnahme. Es zeigt die Isle of Man Memorial Cairn am Rand des Mountain Circuit ca. 2 Meilen oberhalb von Ramsey, errichtet 1937 an jener Stelle, an der Guthrie bei seinem letzten Rennen auf der Insel mit technischem Defekt ausgefallen ist. Zu Besuch zu sehen ist die Werksmannschaft von NSU 1954, H.P. Müller, Hollaus, Haas und Baltisberger .Das Foto belegt, wie umsichtig NSU das „Projekt WM 1954“ auch öffentlichkeitswirksam begleitet hat.

Text: Manfred Amelang