Peter Dürr ist aufgewachsen in der deutschen Zweitakt-Schule, aber der Techniker aus München hat sich sehr schnell an die italienischen Verhältnisse angepasst. Er hat für praktisch alle großen italienischen Motorradmarken gearbeitet: eine ganz besondere Karriere über mehrere Jahrzehnte. Hier erzählt er uns über seine Erfahrungen, berichtet über das italienische Umfeld und seine Überzeugungen über Zweitakt-Renntechnik, die nicht immer mit denen der anderen Konstrukteure übereinstimmt.
Peter Dürr war der erste ausländische Motorrad-Rennsporttechniker, der in Italien gearbeitet hat. Er wollte sich mit Zweitakt-Rennmotoren beschäftigen, obwohl Italien zu der Zeit eine ganz spezielle Viertakt-Kultur aufgewiesen hat. Peter Dürr kam von Zündapp aus München. Auf seinen Fußspuren folgten später andere Fachleute nach Italien, wie Jörg Möller, Jan Witteveen oder auch Jan Thiel. Peter Dürr hat sich im Gegensatz zu vielen anderen Technikern nicht ausschließlich mit Rennsportmotoren beschäftigt. Statt dessen hat er auch viele Jahre Enduro-, Moto Cross- und Trial-Motoren entwickelt. Auch Motoren für Straßenmotorräder und Roller wurden von ihm konstruiert. So kam er zu einer prominenten Reihe von mehr als 10 italienischen Arbeitgebern, wie z. B. Aermacchi, Cagiva und Piaggio. Dabei sammelte er einen enormen Erfahrungsschatz, den er sogar später noch beim Beginn der historischen Rennsportszene verwenden konnte.
Carlo Perelli
Woher stammt Ihre Leidenschaft für Zweitakter und die Aversion gegen Viertakter?
Peter Dürr
Ich hatte nie wirklich etwas gegen Viertakter, schließlich bin ich selbst auf Ducati-, Mondial- und Aermacchi-Viertaktern Rennen gefahren. Aber am Beispiel von MZ hatte ich genau in der Zeit, als ich nach Italien übersiedelte, gesehen, dass die Zweitakter bei den kleineren Hubräumen dabei waren, mehr Leistung zu entfalten, als es die Viertakter je zuvor konnten. Deshalb habe ich mich für Zweitakter entschieden. Schließlich gab es in Deutschland Firmen, die die für Hochleistungsmotoren wichtigen Komponenten zu einem hohen technischen Niveau entwickelt hatten (KS, Mahle, INA, Dürkopp).
Carlo Perelli
Warum haben die italienischen Rennsporttechniker so lange gezögert, sich mit Hochleistungs-Zweitaktern zu beschäftigen?
Peter Dürr
Sie sind in einer Viertakt-Schule aufgewachsen, in der das Wissen immer weitergegeben wurde. Und sie haben die Zweitakt-Motoren stets bezichtigt, bei einem konkurrenzfähigen Leistungsniveau unzuverlässig zu sein und immer nur Kolbenklemmer zu produzieren. Langsam kam dann jedoch auch in Italien die Überzeugung, z. B. erst bei Aermacchi und dann bei Cagiva, dass man für den Erfolg im Rennsport am Zweitakter nicht mehr vorbei kommt. Schließlich benötigt die Entwicklung von Zweitakt-Rennmotoren Methode, Präzision und absolute Überzeugung, drei Eigenschaften, die es in den 60er Jahren bei den italienischen Entwicklern nur teilweise gegeben hat.
Carlo Perelli
Wie sah das damals bei den Japanern aus?
Peter Dürr
Sie haben deutsche Entwicklungen kopiert, und, um die Wahrheit zu sagen: Sie haben kaum etwas Neues erfunden.
Carlo Perelli
Wie bitte? Der Drehschieber, die Einlassmenbranen, gesteuerte Auslasssysteme …
Peter Dürr
Drehschieber- und Membraneinlass wurden in Deutschland lange vor dem Krieg erfunden. Gesteuerte Auslasssysteme sind kein Schritt in die richtige Richtung, weil sie immer mit Kühlungsproblemen verbunden waren. Um letztendlich die Wahrheit zu sagen, auch der Drehschieber und der Membraneinlass besitzen nicht nur Vorteile für die Leistungsentfaltung.
Carlo Perelli
Demontieren Sie da nicht gerade zwei Mythen?
Peter Dürr
Ich demontiere überhaupt nichts. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass der Drehschieber das Frischgas nur auf eine Seite des Pleuels leitet und damit die Frischgasverteilung im Kurbelgehäuse stört. Wohingegen die Einlassströmung, die durch Membranen geleitet wird, alles noch schlimmer macht, weil bestimmte Bereiche im Kurbelgehäuse nicht vom Frischgas erreicht werden. Dadurch wird eine sinnvolle Vergasereinstellung unmöglich gemacht. Das geht auf Kosten der Zuverlässigkeit.
Carlo Perelli
Aber warum haben heute alle Zweitakt-Motoren Membraneinlass?
Peter Dürr
Heutzutage profitiert der Membraneinlass in überaus großer Form von den digitalen Motorsteuerungen. Bei den heutigen Kleinmotoren, z. B. der Roller, sieht man diesen Vorteil eher nicht. Zum Beispiel beim Kraftstoffverbrauch und den Kosten entstehen eher Nachteile. Der klassische Zündapp Zweitakt-Motor Anfang der 60er Jahre leistete 4,7 PS und schaffte mehr als 30 km mit einem Liter Kraftstoff. Wie kann man also bei den heutigen Motoren von Fortschritt reden?
Carlo Perelli
Zusätzlich, gibt es noch etwas bei den modernen Großserien-Zweitaktern, was Sie für eine Fehlentwicklung halten?
Peter Dürr
Die Querschnitte der Überströmkanäle sind viel zu groß. So wird systematisch die Einströmgeschwindigkeit in den Zylinder reduziert. Hingegen haben die Japaner die Querschnitte systematisch klein gehalten, ganz besonders bei den kleinen Zweizylindern. Sie reduzieren damit auch ebenso systematisch die Außenabmessungen der Motoren. Italienische Entwickler sind diesem Beispiel nicht gefolgt, aber bei der Diskussion muss man sehen, dass es für beide Konstruktionsprinzipien Vor- und Nachteile gibt.
Carlo Perelli
Wie viele Überströmkanäle sollten es denn maximal sein?
Peter Dürr
Jeweils zwei seitliche und drei auf der Zylinderrückseite, auf keinen Fall mehr.
Carlo Perelli
In welcher Firma haben Sie sich am wohlsten gefühlt?
Peter Dürr
Bei Fantic, denn dort waren junge Leute in der Geschäftsleitung. Sie waren schnell im Marketing und bei den daraus resultierenden Entscheidungen. Ich rede selbstverständlich nur von der Zeit, als ich dort war. Bei Benelli gab es anfangs noch die Familie, dann übernahm de Tomaso und die Firmenleitung wurde völlig verrückt. Er stellte sich vor, man könne einen Motorradmotor in 10 Tagen entwickeln. Bei MV fühlte sich außerhalb des inneren Kreises niemand wohl. Und als Zweitakt-Entwickler fühlte man sich ausgeschlossen von all denen, die bisher Viertakt-Motoren entwickelt hatten. Bei Aermacchi war es sogar ganz ähnlich, aber die Stimmung in der Firma war wesentlich freundlicher als bei MV. Ich bin zurückgekehrt an den Lago di Varese, als sich die Firma total änderte, als sie von den Brüdern Castiglioni übernommen wurde und in Cagiva umbenannt wurde. Beide waren völlig anders als Domenico Agusta. Bei Piaggio gab es viel zu viele Besprechungen und selten führten sie zu Ergebnissen. In einer solchen Situation kannst du als Entwickler nur den Enthusiasmus verlieren. Aber das ist in allen großen Firmen so.
Carlo Perelli
Und auf der persönlichen Ebene? Wir waren die Beziehungen zu den Chefs?
Peter Dürr
Über de Tomaso habe ich schon gesprochen. Mit Boselli gab es immer Probleme in den Verhandlungen, wenn es um Budgets ging. Domenico Agusta hat die Firma geleitet wie ein absolutistischer Monarch. Ohne seine Zustimmung durfte niemand in der Firma auch nur ein Blatt Papier umblättern. Er war von übermäßigem Stolz besessen, aber er war auch abergläubisch. Er war der absolute Boss der Familie und der Firma. Wenn man von ihm zum Rapport bestellt wurde, musste man mit einer heiligen Geduld ausgestattet sein. Er ließ einen nämlich stundenlang warten, manchmal bis tief in die Nacht. Er war wie aus einem Albtraum. Einmal habe ich gemeinsam mit Giacomo Agostini, der zum allerersten Mal überhaupt in Cascina Costa war, auf den Termin bei Conte Agusta gewartet. Er ließ einen einfach grundlos warten, bis man irgendwann aufgerufen wurde.
Carlo Perelli
Kehren wir zurück zur Technik. Was waren die Vorzüge der Zündapp-Geländemotoren, die in den 60er Jahren überaus erfolgreich waren?
Peter Dürr
Die hatten überhaupt keine Geheimnisse. Sie basierten alle auf einem 50 ccm Motor und wurden bis auf einen Hubraum von 175 ccm vergrößert. Deshalb waren sie alle klein und leicht. (Man sollte wissen, dass es immer besser ist, größere Motoren von kleinen abzuleiten als umgekehrt.) Sie besaßen sehr kleine Zahnräder aus hervorragendem Material, passend zugeschnitten auf die kleinen Gehäuse, aber wenn man in die Zylinder geschaut hat: Die Überströmgeometrie war völlig normal, nichts Außergewöhnliches. Eins ist aber auch sicher: Man hat sich bei Zündapp um diese Motoren gekümmert wie um GP-Motoren.
Carlo Perelli
Die von Ihnen vorbereiteten Gilera 125 Sport Production waren wie "Torpedos". Es wurde aber auch diskutiert, dass die Verkleidung zu große Stirnflächen besaß. Was war das Geheimnis dieser Motorräder?
Peter Dürr
Wir haben uns einfach große Mühe gegeben, die passende Kombination von Zylinder und Kolben zu finden. Wir hatten immer sehr gut vermessene Gruppen von 10 bis 20 Teilen und haben die Zylinder mit Kolben gepaart, die am besten zueinander passten. Dabei ging es manchmal um die Toleranzen der Zylinderbohrung und um die Microgeometrie des Kolbens. Außerdem haben wir natürlich auf minimalen Kernversatz der Überströmer bei den Zylindergussteilen geachtet. Zudem war es oft sinnvoll, Gebrauchtteile wieder zu verwenden, die ihre Zuverlässigkeit bereits nachgewiesen hatten (z. B. Wälzlager und Zahnräder).
Carlo Perelli
Was sind die häufigsten Fehler der Zweitakt-Entwickler?
Peter Dürr
Sie schauen immer nur auf die maximale Leistung und kümmern sich nicht um alles andere. Wir wissen doch, was sie alle machen. Sie vergrößern einfach alle Kanäle und verändern die Steuerwinkel. Aber es ist unsinnig, z. B. ein einziges PS Spitzenleistung zu gewinnen, ohne sich um die Charakteristik der kompletten Volllastkennlinie zu kümmern. Wenn man das erstmal begriffen hat, weiß man, dass es wesentlich schwieriger ist, sich um die komplette Volllast zu kümmern. Wenn man das verstanden hat, wird die Entwicklerarbeit nämlich wesentlich komplexer.
Carlo Perelli
Gab es irgendwelche Projekte, die angefangen, aber nicht beendet wurden?
Peter Dürr
Das war nie meine Schuld. Ich erinnere mich z. B. an einen 350er Twin am Ende der 60er Jahre bei Aermacchi, als sie noch nicht komplett von Harley Davidson übernommen waren. Dann einen 125er Twin für Minarelli von 1973 und an einen 125er, der bei Piaggio 1992 entstehen sollte für eine neue Gilera, die in der Rennserie Sport Production eingesetzt werden sollte.
Carlo Perelli
Irgendwelche Fehler, an die Sie sich mit Bedauern erinnern?
Peter Dürr
Ein 250er Twin mit liegenden Zylindern, mit einem einzigen Drehschieber auf dem Gehäuse für MV. Die Einlasssteuerung hat überhaupt nicht funktioniert. Dann noch einen ähnlichen Drehschiebermotor als Einzylinder bei Fantic, der für GS und Moto Cross unpraktikabel war. Zu meinem Bedauern wurden einige Projekte aus Zeitmangel eingestellt, die durchaus erfolgreich hätten verlaufen können.
Carlo Perelli
Gibt es noch nicht realisierte Träume?
Peter Dürr
Mir hätte die Entwicklung eines 500er Zweitakt Dreizylinders gefallen, ohne Drehschieber- oder Membraneinlass, um zu demonstrieren, dass der klassische Zweitakt-Ladungswechsel zu hervorragenden Ergebnissen führen kann, ohne gleich einen Vierzylinder bauen zu müssen.
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