1951: Vom nationalen zum internationalen Format. Im Laufe der Zeit gab es verschiedene „Evolutions-Stufen“ der Strecke, die bis zum Schluss aus der Kombination verschiedener Landstraßen bestand, die – eine auch andernorts durchaus geläufige Praxis – für den öffentlichen Verkehr während des Rennwochenendes gesperrt wurden. Das erste Rennen nach dem 2. Weltkrieg fand 1947 statt, 1951 wurde erstmals „International“ ausgeschrieben. Da am selben Tag in Frankreich ein WM-GP stattfand, fehlten zahlreiche Spitzenfahrer aus dem Ausland. Gleichwohl kamen nicht weniger als 200.000 Zuschauer, mehrheitlich mit dem Zug (damals war Schotten noch Bahnstation!) und mit Bussen oder Zweirädern; bei gemischtem Wetter – anfangs regnete es – sahen sie in den großen Solo-Klassen Siege von Ken Kavanagh (350er Norton) vor Hans Baltisberger (AJS) bzw. bei den 500ern Georg Meier (BMW) vor Walter Zeller, Kavanagh und Heiner Fleischmann auf der NSU-4-Zylinder. Meier und Zeller überboten auf ihren „Saugern“ mit 125,4 km/h den seit 1948 bestehenden Streckenrekord, der seinerzeit aber noch mit Kompressor-Motoren erzielt worden war. Im Lauf der Gespanne bis 750cc kam es zu einem erbitterten Wettkampf zwischen Hillebrand/Prätorius (BMW) und den Schweizern Haldemann/Albisser (Norton, 600 cc). Gegen Ende des Rennens verlor Hillebrand in der Moufang-Kurve die Kontrolle über sein Gespann und kam von der Piste ab; dabei verlor Prätorius sein Leben. Eugen K. Schwarz schrieb dazu:
“Zu wirklichem Können internationalen Maßstabs gehört nicht nur der absolute Willen zum Siege, sondern auch die Charakterstärke, im gegebenen Augenblick den Drehgriff zuzumachen“ (MOTORRAD, 3, Heft 16, S. 469)
Das obenstehende Foto zeigt Hillebrand/Prätorius in Aktion. (Den verfügbaren Informationen zufolge soll es kurz vor dem Unfall in Schotten aufgenommen worden sein.). Mehrere Details verdienen gesonderte Erwähnung, weil sie typisch für die damalige Zeit waren: 1.) Die Bekleidung von Fahrer und Beifahrer (Pullover; darunter mag sich Leder befunden haben), 2.) Der Schmiermax trägt offenbar keine Brille. 3.) Die unglaubliche Menge an Zuschauern!!
Bereits im Training war der Italiener Claudio Mastellari, der als Fahrer und Tuner einen guten Namen hatte, tödlich gestürzt, weshalb über der gesamten Veranstaltung letztlich eine gewisse Bedrückung gelegen hat.
Wie hart die Zeiten und Bräuche damals waren, mag daraus ersichtlich sein, dass bereits wenige Wochen darauf Hillebrand beim Freiburger Bergrekord mit Georg Barth als seinem neuen Beifahrer an den Start ging, mit dem zusammen er dann mehrere Jahre lang sehr erfolgreich war.
1952: Ausweitung der Internationalität. Gegenüber dem Vorjahr war erstmals ein ausländischer Werksstall am Start, wenngleich in der abgemagerten Form mit nur einem Fahrer: Norton mit Geoff Duke. Dieser fuhr mit der Halbliter-Maschine zwar im Training die schnellste Runde überhaupt (128,8 km/h), doch stürzte er im Rennen mit der 350er in der Moufang-Kurve; Grund dafür war eine Verwechslung der sogenannten „Großen Schleife“ mit der ihr unmittelbar vorangehenden „Kleinen Schleife“, die bei einem ähnlichen Verlauf sehr viel enger ist und deshalb ein niedrigeres Tempo verlangt. Eine andere Auffassung ging dahin, dass ein Ketten-Bruch maßgeblich für den Unfall war. Wie dem auch sei: Duke brach sich bei dem Sturz ein Bein – und das war folgenreich: Weil er verletzungsbedingt bei einigen der nachfolgenden Rennen nicht starten konnte, ging der Titel in der Halbliter-Klasse an Umberto Masetti auf der Gilera-4; bei den 350ern hatte er bereits so viele Punkte gesammelt, dass ihn keiner seiner Konkurrenten noch einholen konnte. Was damals niemand ahnen konnte: Schotten war der letzte Start von Duke als Werksfahrer von Norton gewesen: Ab dem nächsten Jahr würde auch er die 4-Zylinder-Maschine aus Italien pilotieren.
Ansonsten forderte die Veranstaltung mit dem Todessturz von Leonardus van Rijswijk ein weiteres Opfer; der holländische Spitzenfahrer war am Ortseingang von Rudingshain wegen eines Reifenschadens zu Fall gekommen.
In der Viertel-Liter-Klasse beeindruckte Rudi Felgenheier (DKW) nach seinem Sieg bei dem vorausgegangenen WM-Lauf auf der Solitude einmal mehr durch seine beherzte Fahrt, kam dann aber zu Fall und landete immerhin noch auf dem 10. Platz.
Die Seitenwagen-Klasse bis 750cc sah erneut das Duell von Hillebrand mit Haldemann/Albisser, dieses Mal allerdings mit dem Sieg des Deutschen, freilich ermöglicht durch den Umstand, dass den Schweizern auf den letzten Kilometern der Sprit ausgegangen war und sie bergab mit stehendem Motor als Dritte ins Ziel rollten. Der Hubraum ihres Einzylinders wies dieses Mal 720cc auf.
Am Ende des Tages wurde erstmals der neu-geschaffene „Goldene Schotten-Ring“ an den Tagesbesten vergeben; das war Schorsch Meier als Fahrer der schnellsten (Renn-)Runde. Im Jahr darauf sollte sie Bandirola bekommen, der seine 350er-MV-4 noch im Trockenen nach Hause bringen konnte, wie auch noch ein Jahr später H.P. Müller (288cc NSU).
1953: Der Kulminationspunkt: Weltmeisterschaftslauf! Den Höhepunkt der Entwicklung sollten die Rennen im Vogelsberg mit dem Weltmeisterschaftslauf erreichen, der für das Wochenende des 18./19. Juli angesetzt war. Bereits bei der Vergabe des Termins an den DMV und dessen Zuständigkeit für die Strecke war man davon ausgegangen, dass die Charakteristik der Piste keinen Seitenwagen-Lauf erlauben würde. Als am Donnerstag vor dem Rennen mehrere Fahrer zusammen mit Offiziellen den Kurs ein letztes Mal in Augenschein nahmen, bei miserablem Wetter, kamen jedoch Zweifel auf; Bäume sollten gefällt, Kurven-Hinweis-Schilder verbessert, der Asphalt an zahlreichen Stellen ausgebessert und 50 Meter Straße in einem bestimmten Abschnitt auf die geforderten 5 Meter verbreitert werden. Obgleich all diese Maßnahmen in der Nacht realisiert wurden, war es doch zu spät: Am Freitag früh veröffentlichte die FIM einen Beschluss, demzufolge die beiden großen Solo-Klassen aus Sicherheitserwägungen nicht zur WM gewertet würden.
Daraufhin reisten die Werks-Teams von Norton, AJS, Gilera und Moto Guzzi ab. Eine derartige Regelung wurde dem Vernehmen nach von Guzzi auch für die Viertel-Liter-Klasse angestrebt, scheiterte aber am Einspruch von NSU; das deutsche Werk hatte den Kampf um die WM in den beiden kleinen Solo-Klassen generalstabsmäßig vorbereitet und wollte sich durch einen Boykott des Laufes nicht um seine Chancen bringen lassen. (Wenn man den Punktestand am Ende der Saison betrachtet, wird in der Tat deutlich, dass es ohne den Sieg von Haas in Schotten für ihn knapp hätte werden können.) Die Werks-Maschine von Lorenzetti wurde dem Privatfahrer Alano Montanari überlassen (der damit hinter Haas auf den zweiten Platz kam). Aus dem Kreis der streikenden Fahrer und ihrem Umfeld wurde informell bedeutet, dass sich ihre Bedenken gegen die Wertung des Rennens *als WM-Lauf* richteten; würden sie als Privateers antreten und damit nur für sich selbst verantwortlich sein, wäre ein Start durchaus denkbar gewesen, nicht aber unter dem Druck, für ein Werk oder gar die eigene Nation antreten zu müssen.
Derartige Darlegungen erscheinen aber nicht besonders überzeugend, denn nach dem FIM-Beschluss hätten sie ja ohne den Druck der WM-Wertung durchaus starten können, wie es beispielsweise Bandirola getan hat; damit hätten die Werksställe und ihre Fahrer immerhin Start- und Preisgelder erhalten, mit denen die Kosten für Reisen und Aufenthalt hätten bestritten werden können. Wahrscheinlich steckte hinter dem Boykott also vorwiegend doch die Furcht vor den Gefahren der Strecke. Egal: Jedenfalls markierte dieser Streik ein Umdenken in Fragen der Streckensicherheit insofern, als hier nach der bedrohlich angestiegenen Zahl tödlich verunglückter Fahrer auf der TT nunmehr ernsthaft gehandelt wurde, anstatt die Risiken nur anzusprechen. Natürlich war das für die Organisatoren in Schotten ein herber „Schlag ins Kontor“. Er hätte sich vermeiden lassen, wenn die beiden miteinander konkurrierenden Clubs DMV und ADAC an einem gemeinsamen Strang gezogen und sich auf eine permanente, vor allem aber eine weniger gefährliche Strecke geeinigt hätten.
Verlauf und Ergebnisse der Rennen traten gegenüber den geschilderten Problemen in den Hintergrund. Wie vielen Zeitzeugen vermutlich noch erinnerlich, gewann (etwas überraschend) die Achtelliter-Klasse Ubbiali vor Haas; bei den 250ern kam Haas, der auf den Pflastersteinen der Serpentine bei einsetzendem Regen leicht zu Fall gekommen war (da hing plötzlich die WM-Hoffnung an einem seidenen Faden!), vor Monatanari und Hobl ins Ziel. Die 350er-Klasse gewann Bandirola auf der MV-4 vor Hoffmann auf DKW, den Halbliter-Wettbewerb auf nasser Piste Zeller vor Baltisberger und H.P. Müller.
Apropos: Von 25 bis dahin erfassten Veranstaltungen waren nur sage und schreibe zwei gänzlich ohne Regen über die Bühne gegangen; „Schotten“ und „Regen“ standen so gleichsam für Ein- und Dasselbe. Es versteht sich von selbst, dass eine nasse Piste, und die in Schotten ganz besonders, zusätzliche Anforderungen an die Fahrer stellt und das Risiko, nicht mit heiler Haut davon zu kommen, erheblich in die Höhe treibt.
Für das Jahr 1953 heißt es in der „Chronik des Schottenrings“ ein Jahr später:
„Schotten ist Weltmeisterschaftslauf, Deutschlands bedeutendste motorradsportliche Veranstaltung findet auf den Höhen des Vogelsberges statt. Einen derartigen Betrieb hat Oberhessen noch nicht gesehen…Der Motorsportclub `Rund um Schotten` hat den Gipfel des Erfolges errungen.“ (Internationales DMV-Rennen Rund um Schotten, Offizielles Programm, 1954, S. 15)
1954 und 1955: Ausklang und Ende. Im letzten Jahr vor dem Rückzug der NSU- Werksbeteiligung vom Motorradrennsport (also 1954) belegten bei den 125ern die NSU-Fahrer Haas, Hollaus und H.P. Müller die ersten drei Plätze, bei den 250ern waren es sogar deren fünf, nämlich Hollaus, Haas, H.P. Müller, Reichert und Kassner. In der nächsthöheren Kategorie wollte NSU mit der auf 288cc aufgebohrten Renn-Max der Konkurrenz aus Ingolstadt den 350er- DM-Titel partout nicht gönnen und stellte mit H.P.Müller den Sieger und Haas den Viertplatzierten. Also: Totale Dominanz von NSU in drei Solo-Klassen! Mehr an Erfolg war nicht möglich – damit deutete sich für Insider bereits ein Ende des werksseitigen Engagements von NSU an. Bei den Halbliter-Maschinen gewann Zeller, aber Ray Amm, der beim Anschieben im dichten Pulk der Starter mit seiner privaten Norton zu Fall gekommen war, jagte ihm nach und wurde Zweiter, ebenso wie bei den 350ern. Das spannendste Rennen aber waren die Seitenwagen; hier gewannen Faust/Remmert vor Schneider/Strauß, während Hillebrand einmal mehr nach beinhartem Kampf in der letzten Runde verunfallte – aber wie durch ein Wunder erneut ohne ernsthafte Verletzungen davon zu tragen.
Das Jahr darauf (1955) leitete eine grundlegende Wende ein: Die Zuschauer-Zahlen gingen massiv zurück. Wie immer, wenn es um Phänomene geht, die das Verhalten von großen Menschen-Massen betreffen, sind Ursachen dafür schwer auszumachen. Konkret wurde an Auswirkungen der Le Mans-Katastrophe gedacht und die sich daran anhängenden motorsportfeindlichen Presse-Berichte, an eine Sättigung des Publikums durch zu viele Rennen mit internationalen Starfahrern, an veränderte Freizeit-Gewohnheiten der potentiellen Besucher, an eine Abspeckung der Rennen auf weniger Klassen und halbe Tage, um die Besucher nicht zu überfordern, den Rückzug von NSU, kürzere Strecken, damit die Fahrer häufiger an den Zuschauern vorbeikämen und anderes mehr – alles änderte nichts daran, dass beispielsweise in Schotten nicht mehr, wie üblich, an die Hundert- oder Zweihunderttausend Zuschauer gekommen waren, sondern nur um die 30 bis 40-Tausend – auf jeden Fall viel zu wenige, um das Budget des Veranstalters auszugleichen, und das bei strahlendem Sommer-Wetter (ausnahmsweise!) und gutem Sport: Zeller gewann die Halbliter-Klasse vor Riedelbauch, Hobl die 350er, H.P. Müller, der im selben Jahr als Privatfahrer auf der Sport-Max die WM gewinnen würde, bei den 250ern und Fügner auf IFA die 125er.
Keiner der Teilnehmer und Besucher wusste zu diesem Zeitpunkt, dass damit das Ende der Traditions- Veranstaltung im Vogelsberg eingeläutet war. Hinzu kam das später erlassene Verbot von Rennen auf öffentlichen Straßen. Infolge dessen fehlte in den folgenden Jahren der „Schotten-Ring“, wie man ihn bis dahin gekannt hatte, im Veranstaltungskalender für immer.
Ausblick: Freilich blieb der Nimbus der Rennen „Rund um Schotten“ erhalten. Er lebt weiter im Classic-Schottenring-GP, der erfreulicher Weise von ebenso weitsichtigen wie tatkräftigen Personen aus der Taufe gehoben wurde, die in der Nachfolge jener einzigartigen Epoche stehen – und den wir hoffentlich nächstes Jahr erneut gestalten und erleben können. Das wäre dann die 32. Veranstaltung seit 1989.
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