Vor mehr als einem halben Jahrhundert schilderte Ernst Leverkus, bekannt auch unter seinem Pseudonym „Klacks“, einer der bekanntesten Motorsport-Journalisten der damaligen Zeit sowie Begründer der gnadenlosen Tests von Motorrädern auf der Nordschleife des Nürburgrings, in einem seiner Bücher einen bemerkenswerten Ort:
„Da kannte ich einen, der war der Sohn des Besitzers einer großen Maschinenschlosserei, und er hatte sich im fünften Stock des Werkstattgebäudes etwas eingerichtet, was sie geheimnisvoll „Alchimistenküche“ nannten. Dort oben wurden mit den primitivsten Mitteln die wunderbarsten Motorräder zusammengebaut, die (…) je gefahren wurden. Es gab allerhand Werkzeug, auch ein Schweißgerät, und wenn der Alte nicht da war, konnten sie sogar eine Drehbank benutzen. Allerdings gab es keine Möglichkeit, die Maschinen, die sie dort zusammenbastelten, auf zwei Rädern hinein oder hinaus zu transportieren, und so hievten sie sie mittels eines Kranes, der am Dachfirst befestigt war, vom Hof durch die freie Luft hinauf in den fünften Stock…“ (Leverkus, 1968, S. 93/94)..
Ohne weitere Hinweise auf zielführende Namen der damaligen Akteure oder die genaue Lokalität von deren Wirken war es nicht eben einfach, „Ross und Reiter“ auszumachen. Allerdings engten Gespräche mit Zeitzeugen, eigene und fremde Vermutungen den Suchbereich alsbald ein und ließen eine „Expedition“ in den Norden unseres Landes als erfolgversprechend erscheinen.
Die „Alchimistenküche“: Angekommen am angepeilten Ziel fanden wir alsbald das hochragende Werkstatt-Gebäude. In der dritten Generation bewohnen das Anwesen Cord und seine Lebenspartnerin Cordula. Der Großvater von Cord gründete hier einst eine Schlosserei. Vom Vater wurde der Betrieb mehr auf Heizungsbau ausgerichtet, aber oft fanden bereits auch Motorräder ihren Weg in die Werkstatt. Cord hat vor einiger Zeit die Firma verkauft und seitdem die verfügbare Infrastruktur für sein Motorrad-Hobby nutzbar gemacht.
Wie die meisten der anderen Häuser in dieser Gegend liegt das Erdgeschoss als Souterrain etwas tiefer als die höher aufgeschüttete Straße. Hier unten stehen die aus der VFV-Szene gut bekannten Maschinen mit den Start-Nummern K 65 und V 80, daneben noch zwei straßen-zugelassene Triumph T 120 sowie aus den vergangenen Epochen eine Schmiedeesse und ein Amboss. Im ersten Stock entsteht auf einem Werkbock eine Vorkriegs-Triumph, eine Etage höher thront auf einer Hebebühne die Velocette von Cordula, weil die Maschine einen neuen Alu-Zylinderkopf bekommen soll.
Überall Maschinen, Vorrichtungen, Werkzeuge, Ersatzteile, Schränke mit unendlich vielen Kleinteilen, Zylinderköpfe, Auspuffe und allerlei Eisenstücke, an den Wänden Plakate, Cartoons, technische Zeichnungen, alte Fotos. Die Stockwerke sind nur verbunden durch schmale und steile Holz- und Eisentreppen, die den Transport von schwerem Gerät nicht zulassen. Ja, und dann geht noch eine weitere Treppe hinauf in die „Gute Stube“, den Wohn- und Schlafbereich, ausgelegt mit Teppich-Ware – und auch da steht an der Wand eine Velocette aus den Vierziger-Jahren. Wie aber gelangten all die Motorräder hier herauf? Richtig, mittels eines Seilzugs, den auch Klacks schon beschrieben hatte, befestigt oben am Dachfirst und so ausgerichtet, dass beim Raufziehen jeweils eine Fenstertür passiert wird, durch das dann je nach Bestimmungsort das Gerät hereingezogen werden kann. Im zweiten Stock bedeutet das, dass die Fuhre durch die neben der Werkstatt befindliche Küche muss.
Und haben Sie mitgezählt? Die „Alchimistenküche“ erstreckt sich über insgesamt *vier* Ebenen. Wenn „Klacks“ in Bezug darauf von „fünf Stockwerken“ sprach, so hat sich der Altmeister beim Durchzählen etwas vertan oder man hat es ihm nicht ganz korrekt berichtet, ist natürlich völlig unerheblich.
Die „Alchimisten“: Cord und Cordula haben zueinander nicht über die erstaunliche Ähnlichkeit beider Vornamen gefunden, sondern über ihre gemeinsame Leidenschaft für Motorräder.
Cordula ist Architektin in einem Büro, das in einem der vornehmsten Häuser der Stadt untergebracht ist. Seit jeher verfügt sie über einen eigenen „Fundus“ von Maschinen und eine kleine Werkstatt. Cord hat die Motorrad-„Gene“ von seinem Vater geerbt, der ihm auch schon in jungen Jahren Motorräder zum Herrichten überlassen hat. Die seit damals erworbenen Fertigkeiten sind inzwischen beachtlich; Cord kann in seinen Räumlichkeiten fast alle anfallenden Arbeiten wie Fräsen, Schmieden, Drehen, Schweißen usw, usf. selbst durchführen. Dabei helfen ihm auch beste Kontakte zu einschlägig vorbelasteten Kollegen weltweit. Ein aktuelles Projekt stellt eine für die bevorstehende Saison aus Teilen neu aufgebaute Matchless G 50 dar – eine reine Augenweide.
Cord und Cordula sind in der Szene gut bekannt , u.a. wegen ihres außergewöhnlichen „Speed“, den einerseits die Maschinen, zum anderen die Fahrer entwickeln. Bei den Motorrädern handelt es sich hauptsächlich um englisches Gerät, vorwiegend Velocette aus den Dreißiger- und Vierziger-Jahren, deren Leistung keinen Vergleich mit gleichaltrigen Konkurrenz-Produkten scheuen müssen – ein Beleg für die hohe technische Kompetenz beim Aufbau und der Vorbereitung des Materials. Um mehr zum Fahren zu kommen, bringen die beiden neuerdings auch jüngere Motorräder aus Japan an den Start, natürlich ebenfalls leistungsoptimiert. Mit der maschinellen Grundlage gehen hier wie dort beste fahrerische Leistungen einher, worunter im Hinblick auf Cordula viele ihrer männlichen Mitbewerber mitunter arg zu leiden haben, weil sie auf der Strecke häufig genug das Nachsehen haben. Ihr ist, wie sie unumwunden darlegt, meist die Gleichmäßigkeit „völlig egal“, es zählt nur die Pace auf der Piste und der Wettkampf mit den Fahrerkollegen. Dessen ungeachtet ist die Zahl der Pokale von Cord und Cordula – und damit der Erfolg in unserem Wertungs-Modus – sehr beachtlich.
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