Das Gerücht: In Insider-Kreisen kursiert das Gerücht bereits seit geraumer Zeit. Am Rande der Präsentationsläufe in Lorsch sprach es unter anderem Otto Bayer an, selbst Besitzer und Restaurator einer Sportmax, nämlich die Mär, wonach die NSU-Sportmax, auf der H.P. Müller 1955 die Weltmeisterschaft in der Viertel-Liter-Klasse errang, eine ganz besondere Maschine gewesen sei, die sich in einem wichtigen Detail von allen anderen Sportmäxen unterschieden habe: Während bei den mehr als zwei Dutzend Maschinen, die im Frühjahr 1955 vom Werk prominenten Privatfahrern im In- und Ausland überlassen wurden, die obenliegende Nockenwelle des Einzylinders durch Schubstangen angetrieben wurde, habe diese Funktion im Motor der Sportmax von „HaPe“ eine Kette übernommen. Dabei habe es sich um eine Entwicklung gehandelt, die so geheim war, dass nur wenige Eingeweihte davon gewusst hätten, möglicher Weise noch nicht einmal der Fahrer selbst.
Zur Erinnerung: Als eines der Allein-Stellungs-Merkmale der 250er NSU-Max hatte Konstrukteur Albert Roder für den Ein-Zylinder einen Schubstangen-Antrieb vorgesehen (den es so im Prinzip schon vorher einmal bei dem britischen Auto Bentley gegeben hatte). Die ideenreichen Marketing-Leute um den damaligen Presse- und Werbe-Chef Arhur Westrup erfanden für die Anordnung den neuen Begriff „Ultra-Max-Steuerung“ und rührten damit kräftig die Werbetrommel. Der Erfolg war durchschlagend: Die Serien-„Max“ war lange Zeit mit ihren 17 bis 18 PS nicht nur die stärkste 250er auf dem Markt, sondern auch die am meisten verkaufte. Die besagte Nockenwellen-Steuerung funktionierte von Anfang an absolut zuverlässig und wurde später auch bei den Modellen „Maxi“ und „Super-Fox“ verbaut.
Nach dem Gewinn der Weltmeisterschaften 1953 und 1954 mit dem 250er Parallel-Zwei-Zylinder zog sich NSU weitgehend vom Sport zurück; die heraufziehende Absatz-Krise im Zweirad-Geschäft verlangte eine Konzentration der Kräfte auf die Entwicklung von Autos, die mehr Platz und Wetter-Schutz als Zweiräder boten. Nur mit halber Kraft engagierte sich das Werk noch im Rennsport, indem man bereits ausgangs 1954 die besagte Sport-Max entwickelte, diese leihweise einer Reihe von namhaften Privat-Fahrern anbot und auch für einige Überholungsarbeiten sorgte. Bei der Maschine handelte es sich im Wesentlichen um einen auf ca. 28 PS leistungsgesteigerten Serien-Motor; auch Rahmen und Bremsen ähnelten stark den Serien-Maschinen – was ausdrücklich beabsichtigt war, sollten doch Erfolge im Renn- (und Gelände-)Sport ein direktes Zeichen für die herausragende Qualität auch der Serien-Produkte sein und damit die Verkaufszahlen positiv beeinflussen. Und: Zu den identischen Merkmalen in Serie und Sport gehörte natürlich auch der Schubstangenantrieb der Nockenwelle – falls ein Ketten-Antrieb entwickelt und damit ein Leistungs-Vorteil gegenüber dem „Ultra-Max-Antrieb“ erzielt worden wäre, hätte dieses auf jeden Fall strikt unter der Decke gehalten werden müssen, um das gesamte Marketing-Konzept nicht in Frage zu stellen.
Was ergeben Recherchen? Nachforschungen zur tatsächlichen Faktenlage sind schwer. Zum einen geht es um ein Detail, das vorgeblich streng geheim gehalten wurde, und zum anderen liegt das Geschehen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück; die ggf. direkt damit befassten Personen sind bereits lange tot. Es bleiben nur eine Befragung von mittelbar tangierten Personen und die Heranziehung indirekter Evidenzen.
Was die Befragung angeht, so richtete sich diese an ausgewiesene Experten der NSU-Historie:
- Jürgen Nöll hat zusammen mit Wolfgang Schneider vor geraumer Zeit ein ikonisches Buch über die Maschinen geschrieben, mit denen NSU mehrere Weltmeisterschaften errang. Zentrale Bestandteile darin sind einzigartige Fotos von den zerlegten Motoren. Eines davon zeigt zwei Kurbelwellen von Sportmäxen, zum einen die Standard-Rennwelle, „daneben die Welle, mit der H.P. Müller 1955 Weltmeister wurde“ (Nöll & Schneider, 2002, S. 203).
Den Autoren lag somit (vermutlich) der gesamte Motor vor (womöglich sogar die gesamte Maschine, worauf das erste Foto hinweist; s. oben). Die Unterschiede zwischen den beiden Kurbelwellen weisen darauf hin, dass werksseitig in der Tat an Müllers Maschine noch gesondert Hand angelegt wurde. Die Aufnahmen von Zylinderköpfen zeigen jedoch eindeutig nur die Schubstangenanordnung – von einem Ketten-Antrieb der oben liegenden Nockenwelle bei der Sportmax war in den Gesprächen zwischen den Beiden denn niemals auch nur die Rede gewesen. (Aber: Was die Kurbelwellen angeht, gibt es auch eine andere Auffassung aus berufenem Munde: Dieser zufolge handelt es sich bei der rechten Kurbelwelle um diejenige der Serien-Max, und bei der linken um die der Sportmax.)
- Klaus Arth, durch mehrere Bücher als einer der profundesten NSU-Historiker ausgewiesen und tätig im Umfeld der Audi Tradition, hat in den Neckarsulmer Archiven keine verlässlichen Zuordnungen der vom Werk verliehenen Maschinen zu Fahrern anhand von Motor- oder Rahmen-Nummern gefunden. Seiner Meinung nach ist deshalb weiterhin offen, wohin letzten Endes die WM-Maschine von H.P. Müller gegangen ist; für ihn ist es wahrscheinlich das Motorrad, das 1956 ins Zweirad-Museum in Neckarsulm gelangt ist. Es befände sich in originalem, gereinigtem Zustand, dem man seine Historie ansähe; der Motor, Nr. 186007, weise äußerlich keinerlei Anzeichen für einen Kettenantrieb auf. Zu denken sei aber auch an jene Maschine, die über einen Umweg nach Schottland und den Bestand von Glen Henderson in das „Boxen-Stop-Museum“ in Tübingen gekommen sei. An dieser Maschine ist keinerlei Patina erkennbar, da alles von Grund auf restauriert worden sei, was es unmöglich mache, die Historie nachzuvollziehen. (Ein bedeutsames Merkmal für die authentische Müller-Sportmax sind anscheinend die gegenüber den anderen Sportmäxen etwas vorverlegten Fußrasten gewesen, verbunden mit dem modifizierten Gestänge für Schalt- und Bremshebel; darauf müsste man mal alle in Betracht kommenden Maschinen anschauen.) Aber selbst wenn in diesen Maschinen momentan *keine* Ketten-Steuerung verbaut sei, könne das nicht ausschließen, dass einst in dem Motor von HaPe *doch* eine solche vorhanden gewesen sei - ja, so sind die Gegebenheiten nun mal…
- Anderen Aussagen zu folge hat Eric Hinton Anfang 1956 von einem britischen NSU-Repräsentanten auf dem Londoner Crystal-Palace-Camping-Platz erfahren (wo er die Zeit bis zum Start auf der Isle of Man überbrückte), dass er die Maschine von HaPe gelegentlich in Neckarsulm abholen könne. Damit stürzte er später schwer in Brünn, das Motorrad wurde im Werk wieder hergerichtet und ging in die Geschichte ein durch ihre denkwürdigen Auftritte 1958 in St. Wendel und Hockenheim. Don Cox, der Autor der „Bibel“ über die Privatfahrer aus Neu-Seeland und Down Under, kannte ihn sehr gut und gibt die Erinnerungen von Frank Stanborough, einem früheren Helfer von Eric Hinton, in dem Sinne wieder, dass Erics Bike ursprünglich den „Ultra-Rod“ aufgewiesen hätte, doch wurde irgendwann von Mick Mansell in Newcastle (Australien) auf Kette umgestellt. Aber 1997, als sich Eric auf die Assen Centenary TT1998 vorbereitete, wurde wieder “rückgerüstet“, vielleicht, um historische Authentizität zu gewährleisten. (Der Hinweis auf diese Maschine und deren Schicksal mag auf Widersprüche zu den vorherigen Feststellungen hinweisen. Dem ist aber nicht so, weil sowohl Müller als auch Baltisberger *zwei* Maschinen besessen haben sollen.)
- Albert Kleindienst, der Helfer von Hans Baltisberger in jener Zeit und deshalb stets mit offenen Augen für das Geschehen im Fahrerlager unterwegs, kann einen Ketten-Antrieb in HaPes Motor nicht völlig ausschließen, hält ihn jedoch für extrem unwahrscheinlich. Die Schubstangen hätten durchaus hohe Drehzahlen ermöglicht (zumal sie nur mit der halben Kurbelwellen-Drehzahl liefen), und Vibrationen wären kein Problem gewesen, allenfalls waren die Bronzebuchsen etwas empfindlich gewesen und hätten permanent ausgewechselt werden müssen. Und: HaPe sei ein derartiger „Fuchs“ gewesen, dem man einen in derartiger Weise modifizierten Motor niemals hätte „unterschieben“ können, ohne dass er dieses gemerkt hätte.
Fazit: Es gibt keine schlüssigen Aussagen von Zeitzeugen oder Historikern dafür, dass *werksseitig* anstelle der „Ultra-Max-Steuerung“ ein Ketten-Antrieb zum Einsatz gekommen wäre.
Das schließt natürlich nicht aus, dass es nicht solche Konstruktionen als *private* Bastel-Arbeiten gegeben hätte. Eine davon stammte vorgeblich von Fritz Kläger, wie die Strecken-Sprecher von Rennen während der Fünfziger-Jahre bei der Vorstellung von Fahrern und Maschinen wiederholt feststellten. Aber de facto hat Kläger nur von den Schubstangen auf eine Zahnrad-Kaskade und Doppelnocken mit Schlepphebeln umgebaut. Auch haben z.B. Anton Anzi und Max Demel heute solche Umbauten in ihrem Besitz, die auf Lantenhammer zurückgehen.
Indirekte Hinweise: Ein denkbarer Zugang zur Stichhaltigkeit des Gerüchts besteht darin, die Leistung von H.P. Müller und der von ihm gefahrenen Maschine im Vergleich zu seinem Markenkameraden Baltisberger zu analysieren. Ein Umbau auf Kette wäre doch nur dann sinnvoll gewesen, wenn sich dieser danach in einer höheren Leistung niedergeschlagen hätte. Als beide gemeinsam Werksfahrer waren, also 1954, waren sie bis zu dem schweren Sturz von Baltisberger auf der Solitude in etwa gleich erfolgreich, Baltisberger etwas schneller bei den 125ern, Müller leicht voraus bei den 250ern. Auf dieser Basis haben beide Fahrer im Jahr darauf von NSU wohl *gleichwertige* Sportmäxe bezogen. In den Läufen zur DM, an denen beide gemeinsam teilgenommen haben, war Baltisberger zweimal knapp vor Müller, Müller zweimal ebenso knapp vor Baltisberger ins Ziel gekommen; letzterer gewann darüber hinaus auch Dieburg, wiederum sehr knapp. Von daher gab es wohl kaum einen Unterschied im Material, wobei der Motor von „Baltis“ definitiv die Schubstangen-Steuerung aufwies. Damit nicht genug: Bei den WM-Läufen gab es zwei ausgesprochen schnelle Strecken, auf denen vor allem Motor-Leistung zählte, nämlich Ulster und Monza. Hier kamen die Sportmäxe von Surtees und Sammy Miller bzw. diejenigen von Baltisberger und Miller jeweils *vor* H.P. Müller auf seiner Maschine ins Ziel – sehr unwahrscheinlich also, dass letzterer auf einer leistungsmäßig zusätzlich optimierten Maschine gesessen haben könnte.
Schlussfolgerung: Nachfragen bei Zeitzeugen und Historikern sowie die Analyse von Renn-Ergebnissen haben keine aussagekräftigen Hinweise darauf ergeben, dass die Sportmax, auf der H.P. Müller die WM 1955 gewonnen hat, anstelle der „Ultra-Max-Steuerung“ einen Ketten-Antrieb beinhaltet hätte.
Insofern haben die Nachforschungen nichts Belegbares zu der vorgeblichen Ketten-Anordnung erbracht; aber das Gerücht als solches verbreitet sich mit dem vorliegenden Beitrag wohl weiter und als Folge davon könnten vielleicht Leser dieser Story und andere Zeitzeugen mit weiteren Details oder gar echten *Beweisen“ aufwarten. Gegebenenfalls bitte melden mittels e-mail unter: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Literatur:
Nöll, J. & Schneider, W. (2002) NSU. Der Weg zur Motorrad-Weltmeisterschaft . Königswinter: Heel |