Schermer’s  Werkstatt - Geschichten

 

2005 - DER MARTIN ZIEGLER WEISS DAS!



Von Kolben und anderen Kleinigkeiten für unsere Schätzchen

Du brauchst für deinen Zweitakt - Renner aus den 70er oder 80er Jahren einen Kolben, den es schon lange nicht mehr beim Händler zu kaufen gibt? Kein Problem, der Martin hat ihn bestimmt.

Wenn ich gegen Abend in Klausur gehe und den Tag mit eigenen Gedanken ausklingen lassen möchte, dann will ich meine Ruhe haben. Also bewege ich mich nach unten in meine Werkstatt und schraube an meinen beiden Yamaha Rennmaschinen herum. Ab und zu packt mich der technische Ehrgeiz, ich werde ganz mutig, gelange ins Motorinnere und dann zwangsläufig zu den Kolben: Wie ist ihr Tragbild? Wie frei sind die Ringe? Haben sie noch genug Spannung? Hat ein Lager Luft? Ein Mordsthema ist das!
Es ist bei uns Hobby-Veteranen-Rennfahrern ja wirklich so, dass wir unsere alten Rennmaschinen nur deswegen lieben und mit ihnen fahren, um unsere eigene Schraubkunst der staunenden Öffentlichkeit vorzuzeigen und nicht die Fahrkunst. Um nach dem „Rennen“, das nach VFV-Regeln in Wirklichkeit keines ist, sondern eher eine Gleichmäßigkeitsprozession, sagen zu können: „Seht alle her, mein altes Schätzchen hat mal wieder durchgehalten! Was bin ich doch für ein genialer Schrauber!“
Vielleicht ist es auch nicht so und wir fahren um des fahrens willen, um des rasens auf der Rennstrecke? Egal. Ehrlich: Es macht doch großen Spaß, das Motorinnere zu erkunden und es mit der ganzen Fülle an Erfahrung eines beinahe gelebten Motorradfahrerlebens zu betrachten, das Ansaugen und das Verdichten und das Zünden und das Auspuffen nachzuvollziehen, das hektische Auf und Ab des Kolbens in „11500 mal pro Minute!“ sich vorzustellen. Wow. Technik. Echte Renntechnik. Zwar von damals, aber heute haben wir etwas mehr Zeit, wo wir kurz vor dem echten Rentenalter nicht mehr so viel arbeiten müssen und uns dem Hobby „alte Rennmaschinen“ mit aller Hingabe widmen können.
Und ab und zu kommt dann der Punkt, wo ich dasitze mit der Pulle Tannenzäpfle in der einen und der Lucky Strike in der anderen öligen Hand und sinniere, warum wohl in dem einen Kolben unten ein Loch drinnen ist und in dem anderen nicht. Nein, ich meine kein von einer defekten Zündung reingebranntes Loch oben im Kolbenboden, sondern ein sauber unten in das Kolbenbolzenauge reingebohrtes. Zur Schmierung?
In solchen Momenten trinke ich mein Bier aus und lege mich ins Bett. Mit dem festen Vorsatz, morgen zu Martin Ziegler zu fahren und ihn zu fragen, ob das Loch zur Schmierung sein muss und ob damit mein Yamaha-Motor vielleicht sogar 0,05 PS mehr leistet.
Ronald Reagan ist für Martin Ziegler ebenso ein Held wie James Dean und Kenny Roberts. Man sieht es an den Postern und Bildern, die in seiner kleinen, sauber aufgeräumten Drei-Raum-Werkstatt in Stuttgart Bad Canstatt hängen. Und der amerikanische Schützenpanzer auf dem Sideboard verdeutlicht ebenso Martin Zieglers Lebensmotto „Rauh, aber herzlich, immer direkt und gerade heraus“ wie seine selbstgebaute 500er Straßenmaschine mit dem liegenden 500er Einzylinder Guzzi-Motor, für die er sogar eine echte Abnahme vom TÜV bekommen hat.

Unter Beachtung der amerikanischen Lebensweisheiten gibt’s bei Martin kein Pardon: „Nur deutlich sagen, was Sache ist, führt dich zum Ziel!“. Wie die Cowboys im Wilden Westen – Martin trägt ihre Mentalität in Form einer großen, gegossenen Schnalle mit dem amerikanischen Adler als eingelegtem Motiv am Ledergürtel, mit dessen Hilfe er sich den Bund der Levis’ 501 knapp unterm Wams hält. „Die hat mir Wayne Rainey einmal geschenkt“, sagt er leuchtenden Auges, „und die hat so gute Qualität, das gibt’s nur in Amerika!“
Zehn Jahre lang war er in den 60er Jahren bei Porsche im Versuch, danach mehrere Jahre beim Holländer van Veen im Rennmotorenbau, betreute Eugenio Lazzarini auf dessen Weg zur 50er Weltmeisterschaft, baute 1984 für die 80er Klasse eigene Rennmotoren, die unter Fahrern wie Rainer Kunz, Richard Bay und Kurfiss bis 1988 in der DM, EM und WM erfolgreich vorne mitfuhren, um sich dann einem Thema ganz zu verschreiben: Kolben, nix als nur Kolben.
Zuerst organisierte er für Mahle den Renndienst im GP-Zirkus, nahm Mahle-Kolben zu den Rennen mit und die Wünsche und Ideen der Fahrer, Teamchefs und Techniker zurück zu Mahle, deren Renn- und Service-Abteilung damals ein paar Straßen weiter in seiner Nachbarschaft angesiedelt war. Doch als vor rund 20 Jahren immer mehr große Industriefirmen (und Mahle ist groß!) die Mode der innerbetrieblichen „Controller“ kultivierten, die allen Mitarbeitern ausschließlich unter Kostengesichtspunkten auf die arbeitenden Hände schauen und jegliche Kreativität im Keime ersticken, machte es dem Martin keinen Spaß mehr.
Bei italienischen Herstellern und Lieferanten fand er mehr Gehör für seine Ideen: „Nix gegen Mahle, aber bei denen zog in den 80er Jahren die Idee der Gewinnmaximierung ein, der Service für den kleinen Mann blieb dabei auf der Strecke“, blickt Martin ganz ohne Groll zurück. Mit den Italienern zusammen war es ihm möglich, einige seiner Ideen zu versuchen und die, die funktionierten, als Patent anzumelden und diese dann in die Produktion der Kolben einfließen zu lassen: „Ich habe es geschafft, leichte und doch standfeste Kolben herstellen zu lassen, die verschleißfester waren als andere, besonders der aus Japan!“ Diese Technik half mit, dass Kenny Roberts Weltmeister wurde mit seinen Kolben und auch Eddie Lawson, Wayne Rainey und John Kocinski – teils gegen den erbitterten Widerstand der japanischen Techniker, die lieber ihre landeseigenen Kolben einbauen und siegen sehen wollten.
Im aktuellen Renngeschehen wurde es in letzter Zeit ruhiger um die Nachfrage nach Rennkolben aus Martin Zieglers kleiner Macho-Werkstattwelt, denn erstens sind die Rennzweitakter auf einem raketengleichen Rückzug zugunsten der Viertakter (dass die neuen Renn-Viertakter in der MotoGP den doppelten Hubraum brauchen, um schneller zu sein als die 500er Rennzweitakter, ist wieder eine andere Geschichte!) und zweitens sind die heutigen Kolben für die modernen Zweitakt-Straßen- und Cross-Rennmaschinen wie Aprilia, Honda und Yamaha besser denn je, also fast so gut wie Zieglers GP-Kolben. Aber nur fast. Ergo läuft der Laden nicht mehr so gut wie noch zu Roberts GP-Siegerzeiten. Zuerst kamen dem Martin die vielen Anrufe meiner VFV-„Renn“-Kollegen, die im letzten Jahr nach der Klassenöffnung für GP-Maschinen bis Baujahr 1978 Martin Zieglers Nummer wählten, eher ungelegen: „Die fragen mir Löcher in den Bauch nach diesem und jenem Kolben, da ist vor lauter zeitintensiver Beratung nix verdient“, mimt er ganz den Geschäftsmann. Aber er wäre ein schlechter, hätte er nicht angefangen zu überlegen: „Ich hatte in meinem früheren Sortiment 54er Kolben für die 125er Renn-Maicos, die Yamaha TD und TZ Serie und die Suzuki RG der ersten Baujahre. Auch gab’s 54,25er für die letzten TZ’s mit Blockzylinder und 56,4er für die späten RG’s. 64 mm maßen die Kolben der Vierzylinder TZ 700, 66,4 mm die der TZ 750. Alle Formen und Werkzeuge sind noch da, also mache ich doch wieder Kolben und bin wieder der Kolben-Ziegler!“ Und darüber bekam er Freude am Kolben machen für alte Rennkisten und jetzt ist sein Angebot komplett.
"Sogar für die seltene Dreizylinder 500er Honda habe ich jetzt wieder frisches Material da“, sagt er, und der Macher-Stolz ist ihm ins verschmitzte Gesicht geschrieben: „Ich habe gegossene und geschmiedete Kolben, beide Sorten sind für leichten Lauf und höhere Standfestigkeit graphitiert. Kolbenringe gibt es auch dazu, Stahlringe für Chromlaufbahnen oder verchromte für Nikasil. Nadellager für die Kolbenbolzen habe ich bei INA besorgt und Sicherungsclipse aus hochfestem Federdraht ebenfalls. Und falls einer seinen Zylinder neu mit Nikasil beschichten lassen möchte, egal in welchem Durchmesser, auch das kann ich organisieren. Damit die alten Buben wieder fahren können!“
Halt, Martin, bremse Deine Begeisterung, ich habe noch eine wichtige Frage: Wie ist das wirklich mit den kleinen Löchern unten im Kolbenbolzenauge? „Das sind die sogenannten Beruhigungslöcher, die macht man rein, wenn man Angst hat, dass der Kolbenbolzen fest geht, dann macht man zwei Löcher rein. Bei meinen Schmiedekolben braucht’s keine Zusatzlöcher, denn die Bohrungen für den Bolzen sind harteloxiert, da geht der Bolzen selbst nach hunderten von Rennkilometern leicht mit der Hand wieder raus!“

 
Martin Ziegler wurde nur 65 Jahre alt. Er ist 2008 gestorben