Claus Pelling:
Sein Motorrad ist ein Stück von ihm
Ein Beitrag aus dem Jahr 1981

Die Besonderheiten des Motorradfahrens werden deutlich, wenn man sie im Vergleich zum ganz anders gearteten Autofahren betrachtet. Das Auto ist ein Hausersatz auf vier Rädern mit Tür und Fenster, Fußboden und Dach. Es umgibt den Fahrer. Weitere Insassen, Familienmitglieder, Kinder sorgen für die vertraute Atmosphäre; man raucht, unterhält sich, das Radio läuft. Ein Auto hat etwas Geselliges an sich mit der notwendigen Konsequenz, daß der Fahrer vom Fahren abgelenkt wird.Was umso bedenklicher ist, als über die fahrtechnischen Möglichkeiten eines Autos nur eine verschwindende Minderheit unter den Autofahrern Bescheid weiß.
Ganz and
1981claus-pellingers, geradezu umgekehrt liegen die Dinge mit dem Motorradfahrer. Zum Fahren löst er sich aus der vertrauten Umgebung ganz heraus. Schon das Anziehen des Lederzeugs und das Ergreifen des Schutzhelms vor der Fahrt drückt die Besonderheit der bevorstehenden Tätigkeit aus, das sportliche Spezialistentum, auch die potentielle Gefahr. An die Stelle der häuslichen Umgebung tritt die Identifizierung mit der Maschine. Dieses ist nicht nur psychologisch gemeint; psychologisch kann man sich mit allem Möglichen identifizieren, natürlich auch etwa mit Autos. Für den Motorradfahrer ist diese Identifizierung sogar eine körperliche Notwendigkeit. Denn den Motorradfahrer umgibt nicht die falsche Sicherheit eines Fahrgastraumes. Er wird überhaupt nicht vom Fahrzeug umgeben, sondern eher umgibt er das Fahrzeug. Unzählige Fotos von Rennfahrern sind Beispiele für die Einheit von Mensch und Maschine, für den Zwang, sich mit der Maschine zu identifizieren, wenn man gut Motorrad fahren will.
Sicher, sicher, für alles gibt
es Ausnahmen: Mancher sitzt auf seiner Hochlenkermaschine wie ein gehbehinderter Dirigent im Rollstuhl unmittelbar vor dem Einsatz seines Orchesters und löst beim Betrachter die Assoziation aus: Gott, er wird doch nicht herunterfallen, wenn die Maschine um die nächste Straßenecke biegen muß.
claus-pelling--egli-kawaDas Motorrad ist eigentlich auch kein Beförderungsmittel für weitere Personen, auch wenn sich ein Soziussitz üblicherweise hinter dem Fahrersitz befindet und zu zweit fahren etwas Wunderbares sein kann. Die Lage hinter dem Fahrer unterstreicht die Tatsache, daß der Beifahrer unbedingt auf eine Position gerückt werden muß, wo er so wenig wie möglich stört und über den Umstand hinaus, daß er durch sein Gewicht die präzise Lenkung des Fahrzeugs sowieso erschwert, kein weiteres Unheil anrichtet. Die Lehre von der Überflüssigkeit des Beifahrers wird durch schöne Geschichten illustriert, wo Motorradfahrer - darunter soll auch der Nobelpreisträger für Physik Max von Laue gewesen sein - ihre Soziusfahrer bei kernigen Beschleunigungsvorgängen verloren haben, ohne es selbst zu merken.
Die Quintessenz also ist:
Der Motorradfahrer sollte eigentlich allein sein. Und konzentriert auf die Straße und ihren Verlauf. Das Landschaftserlebnis, an dessen Verstärkung alle Autoinsassen am Sonntagnachmittag gemeinsam gewaltig arbeiten, ist beim Motorradfahrer,
dem armen Kerl, geringfügig. Das Straßenerlebnis tritt an seine Stelle. Selten hört man einen Motorradfahrer sagen: Mensch, war diese Landschaft oder dieser Ausblick großartig.
Die Landschaft wird vom
Motorradfahrer eher durch andere Sinne als gerade die angespannten Augen wahrgenommen: Er genießt die Kühle eines Tales, durch das er im Sommer fährt oder den harzigen Duft des Waldes.
Durch die Augen kann der Fahrer die Landschaft nicht erleben; die sind besetzt durch die Dynamik der Straße. Und was sind Straßen für den Motorradfahrer? Straßen sind Anordnungen von Kurven. Und welche Banalität: Die Kurven sind das Salz in der Suppe. Hier in den Kurven, die ein Zweirad aus Gründen der physikalischen Gesetze nicht aufrecht durchfahren kann, erweitern sich die Dimensionen des Motorradfahrers. Er gewinnt die dritte Dimension, das Raumgefühl hinzu, ein Gefühl, das sonst nur den Fliegern vorbehalten ist. Und das ist die Stelle, wo der Motorradfahrer süchtig wird.
claus-pelling--egli-kawa-1Beim Kurvenfahren addie
ren sich die Eigenschaften des Fahrzeugs mit Motor und Fahrwerk, Eigenart der Kurve und Straßenbeschaffenheit, eigene Fahrfähigkeiten und Unvollkommenheiten mit dem Bewegungsgefühl, der Wachheit und der Reaktionsbereitschaft zu einem einmalig komplizierten und begeisternden Gesamterlebnis. Hier läßt sich überprüfen, ob man noch halbwegs funktioniert.
Die Aufregung und Begei
sterung, die der Motorradfahrer beim schnellen Kurvenfahren erlebt, hat möglicherweise etwas mit dem dabei auftretenden Überangebot an intensiven und komplizierten Sinneseindrücken zu tun. Schließlich hat die Natur den Menschen nicht gerade dazu erschaffen, mit 140 Stundenkilometer Geschwindigkeit auf eine Haarnadelkurve zuzurasen - ein Problem, dem sich das Gefühlsleben eines Mauerseglers oder einer Libelle sicher eher gewachsen zeigen würde. Und es kommt noch etwas hinzu: Nämlich daß die Umsetzung dieser Eindrücke und Empfindungen in etwas anderes, zum Beispiel in Körperbewegungen, nicht möglich ist, solange man auf dem Motorrad sitzt. Dieser Stau in der Weiterverarbeitung der Sinneseindrücke, der mit der relativen Bewegungslosigkeit zusammenhängt, mit der der Fahrer auf seiner Maschine hockt, scheint die Begeisterung am Fahren erheblich zu steigern und nicht abzuschwächen.
Ich fühle mich dabei an eine
andere große Erregung meiner Kindheit erinnert, die mich regelmäßig befiel, wenn ich mal eine größere Eisenbahnreise machen durfte. Ich meine, daß es auch dabei einen Zusammenhang gab zwischen der Bewegungslosigkeit, mit der ich als kleiner Junge auf einem Fensterplatz hocken mußte, und der großen Begeisterung, die das rasende Band der Bilder, das an meinem Abteilfenster vorbeizog, in mir auslöste.


 Text: Claus Pelling, Fotos: Archiv Pelling, Wolfgang Fromm